Ich befinde mich noch in der „Recovery-Phase“. Das bedeutet, ich erhole mich noch von meinem Untergewicht und arbeite an meinem Selbstbild. Deshalb bin ich gerade mittendrin und vielleicht willst du mich begleiten.
Ich wechselte kurz nach Schuljahresbeginn aus persönlichen Gründen die Schule. Dann ging es los: ich habe angefangen weniger zu essen und war oft sehr traurig, vor allem an den Abenden. Bis zu den Herbstferien nahm ich ungefähr 3 kg ab. In den Ferien ging es einigermaßen, weil mir der Urlaub mit meiner Familie gut getan hatte. Leider reichte die Kraft nicht aus und ich fühlte mich immer schlechter. Ich konnte in der neuen Klasse gar nicht ankommen, weil ich mit mir so zu tun hatte. Ich hatte unglaublich Angst in der Schule zu essen, weil ich immer dachte, was denken die anderen über mich. Finden sie es eklig und abstoßend, wie viel ich aß. Also habe ich der Schule keinen Bissen mehr runter gekriegt. Ich war sehr verschlossen und still. Natürlich machte ich mir auch darüber Gedanken, was die anderen von mir hielten. So konnte mich niemand kennenlernen.
Ich hatte unglaublich Angst in der Schule zu essen, weil ich immer dachte, was denken die anderen über mich.
Seit ich 8 Jahre alt bin, habe ich Rückenschmerzen, weil meine Wirbelsäule schief wächst (Skoliose). Seit einigen Jahren muss ich ein Korsett tragen, dass mich sehr einengt. Es wird extra so straff angefertigt, damit es mit viel Druck die Wirbelkörper aufrichtet. Außerdem musste ich 2mal pro Woche zur Physiotherapie und Übungen machen. Durch meinen schiefen Rücken habe ich immer hören müssen: „Du bist falsch.“, „Du bist krumm.“, „Stelle dich gerade hin.“ Ich glaube dadurch konnte ich mich auch nicht lieben, wie ich war. Mein Korsett wurde vor 1,5 Jahren gebaut aber ich konnte nicht damit umgehen, dass es immer enger wurde. Eigentlich ist es logisch, wenn man wächst, braucht der Körper mehr Platz. Mir war das leider nicht klar. Ich fühlte mich viel zu dick und hässlich und es musste irgendwie weniger werden. Das stand für mich fest!

Durch den Lockdown wurde meine Situation auch nicht besser. Die Freunde meldete sich nicht, weil man sich sowieso nicht treffen konnte, so dass ich mich sehr schnell, sehr einsam fühlte. Ich verglich mich mit allen möglichen Freunden und Bekannten und fand immer jemanden, der schöner, netter, dünner oder besser war als ich. Keine Ahnung, warum ich mich diesen Gedanken ausgesetzt habe. Ich fand immer etwas, was ich nicht hatte und das brachte mir noch mehr Unzufriedenheit. Im Spiegel sah ich nur eine „dicke Kuh“. Ich musste etwas ändern! Ich begann Kalorien zu zählen und nahm immer weniger Nahrung zu mir. Am Ende aß ich am Tag 500 Kalorien und weniger. Zusätzlich bewegte ich mich sehr viel. Natürlich fühlte ich meinen Hunger, meinen knurrenden Magen aber ich unterdrückte und ignorierte es. Über die Weihnachtszeit nahm ich immer mehr ab, währenddessen alle anderen zunahmen. Welch eine Ironie, oder? Ich musste sehr viel Sport machen, sogar in der Nacht brauchte mein Körper das.
Für meine Mutter wollte ich immer da sein, weil sie auch öfters unter Stimmungsschwankungen litt. Ich wollte schon als kleines Mädchen für sie stark sein und keine Probleme machen. Dabei habe ich mich völlig vergessen. Wenn ich jetzt daran denke, ging es ihr eigentlich ganz gut und trotzdem hatte ich immer Angst um sie. Niemand will, dass seine Mama weint.
Ich habe einen tollen großen Bruder. Er ist ein „Überflieger“. Er kann immer alles, interessiert sich für alles und findet schnell Kontakt zu fremden Menschen. Das ist okay! Aber ich bin eher zurückhaltend und schüchtern. Ich bin nicht gerne im Mittelpunkt. Ich interessiere mich für Kunst, Bücher und Tanzen. Ich wollte es jedem Recht machen bis ich (jetzt) gemerkt habe, dass das gar nicht geht. Ich muss auf mich hören und auf meine Bedürfnisse achten. (Das habe ich in der Klinik gelernt.) Mein Bruder studiert Informatik, genau wie mein Papa, so dass die beiden sich immer etwas zu erzählen haben. Ich konnte mich leider nie so gut mit meinem Vater unterhalten. Er wollte, dass ich mich für alles interessiere, eben wie mein Bruder. Irgendwie hatte ich oft das Gefühl, dass er mehr von mir erwartet und mich mit meinem Bruder vergleicht. Vielleicht habe ich es auch nur so aufgenommen, obwohl es nie so gemeint war.
Im Februar hatte ich einen Arzttermin und dort wurde die Diagnose „Anorexi nervosa“ gestellt. Ab da an musste ich jede Woche zum Arzt und wurde gewogen. Ich wollte es alleine schaffen und versucht, sechs Mahlzeiten am Tag zu essen. Meine Gedanken drehten sich nur noch ums Essen. Was gibt es nachher zu essen? Kann ich das essen? Wie viel Kalorien hat das? Ich habe unglaublich viel gebacken und gekocht. Habe meiner Familie ständig etwas angeboten und wollte, dass sie aßen, damit ich mich besser fühlen konnte.
Meine Gedanken drehten sich nur noch ums Essen. Was gibt es nachher zu essen? Kann ich das essen? Wie viel Kalorien hat das?
Jede Woche habe ich es versucht. Am Anfang der Woche konnte ich noch essen und an den folgenden Tagen wurde es immer schwieriger für mich. An dem Tag vor dem Wiegen konnte ich fast nicht mehr essen. Ich hatte große Angst, dass ich zugenommen habe. ABER ich nahm jede Woche ab. Selbst meinen Geburtstag wollte ich nicht feiern.
Ich hatte dann eine ambulante Therapeutin, zu der ich jede Woche zum Gespräch war. Aber so richtig half mir auch das nicht. Ich mochte mich nicht mehr und musste/wollte mich bestrafen. Zum Beispiel konnte ich mich nicht mehr auf das Sofa setzen und habe mich stattdessen auf den Steinboden gesetzt bis es weh tat oder mich selbst geschlagen oder ins Bein geritzt. Irgendwann wollte ich nicht mehr, ich wollte nicht mehr leben. Ich wurde immer schwächer und hatte keine Kraft mehr, obwohl das mir das gar nicht bewusst war. Ich dachte immer noch, dass ich viel zu dick war. Ich wollte nicht in die Klinik, konnte mich aber nicht besinnen und wieder essen. Ich war auf dem falschen Weg abgebogen und war darin gefangen. Ich habe 11 Wochen versucht wieder zuzu-nehmen aber es gelang mir nicht. Die letzte Woche war furchtbar, denn ich wartete auf den Anruf der Klinik, um aufgenommen zu werden. Vorher musste ich noch zum Kardiologen, um mein Herz checken zu lassen. Durch einen Ultraschall kam raus, dass ich Wasser am Herzen eingelagert hatte. Das ist lebensgefährlich und ich habe unglaubliche Angst bekommen. Ab da an musste ich täglich zu meiner Ärztin, weil sie Angst hatte, dass ich zusammenklappe.
Ich sah keinen Sinn mehr in meinem Leben.
Am 20. April wurde ich mit 40 kg (entspricht Perzentile 0) in die Klinik eingewiesen. Es gibt insgesamt 100 Perzentilen, da würde sehr adipös sein. Bei Perzentile 50 ist man in der Mitte und bei 25 an der Untergrenze des Normalgewichtes. Ich war extrem abgemagert und viel zu dünn für meine Größe. Meine Klinikärztin meinte, dass ich nur noch 1 bis 2 Wochen durchgehalten hätte. Das Erstaunliche war, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie schwach ich war. Ich dachte immer noch, ich bin stark und fit. Ich konnte mich so gut belügen.

In der Klinik habe ich wieder angefangen zu essen. Ich war dankbar für die Hilfe dort. Ich bekam eine bestimmte Portion an Kalorien und Vitaminen. Ich wollte gesund werden. Ich hatte viele Ruhezeiten, die ich im Bett verbringen musste und Bewegung war auch erstmal nur wenig möglich. Ich habe alles konsequent eingehalten. Meine Therapeutin hat mir unglaublich geholfen. Zur Einweisung in die Klinik meinte sie: „Wir müssen erstmal den Pinguin aus der Wüste tragen.“ Zu Beginn hatte ich in den Nächten viele Panikattacken, was sehr schlimm für mich war. Ich habe meine Familie so doll vermisst aber ich durfte nicht nach Hause. Ich musste in der Klinik bleiben. Es gab zwar Besuchszeiten aber die waren nur 1 Stunde lang und das 3mal in der Woche. Ich habe mich zwar immer gefreut, aber dass man sich überhaupt freuen muss, seine Eltern sehen zu dürfen. Das sollte doch selbstverständlich sein. Es ist erstaunlich gewesen, wie wichtig Berührungen unserer Liebsten sind. Also berührt sie, wenn ihr könnt! Für meine Eltern war es sehr schlimm, mich in die Klinik zu bringen. Für alle Eltern ist es so schwierig, wenn sie ihren eigenen Kindern nicht helfen können. Meine Mama hat sich sehr viele Vorwürfe gemacht. Sie hat sich nie so etwas für ihre Kinder vorstellen können und wollte sie vor Krankheiten beschützen. Aber das funktioniert nicht. Es kann jeden treffen! Mein Vater konnte am Anfang nicht mit meiner Erkrankung umgehen oder es nicht nachvollziehen. Er konnte mich nicht umarmen, weil ich so dünn war und er es nicht ertrug. Dadurch hatte ich das Gefühl, dass ich es nicht Wert bin, geliebt zu werden. Außerdem konnte ich mir das Essen nicht erlauben, weil ich es nicht verdiente. Meinem Körper hat man angesehen, wie sehr ich hungerte. Meine Knochen traten unter Haut stark hervor. Sogar die Rippen meines Brustkorbes waren sehr deutlich zu sehen. Auf meinem Körper wuchs überall Flaum (kleine Härchen). Hingegen fielen meine Haare am Kopf aus. Meine Periode hatte ich seit Monaten nicht mehr.

Bis zur 10. Perzentile (bestimmtes Gewicht für meine Größe) war ich auf einer Station, wohin alle Jugendlichen kommen, die in einer psychischen Krise steckten. Es war schlimm. Ich musste lernen, wie ich mit den tragischen Schicksalen der anderen umgehe und mich abgrenzen kann. Auf einen Schlag musste ich erwachsen werden aber vielleicht war das genau das richtige für mich. Man kann psychiatrischen Kliniken zwar schönreden aber es ist es nicht. Man verliert erstmal alle Rechte. Selbst mein Bad war zugeschlossen. Im Nachhinein war es sicherlich richtig, weil man sich in dieser Situation nicht selbst trauen kann. Ich habe in dieser Zeit sehr viel Tagebuch geschrieben und Hörspiele gehört. Von Freunden und meiner Familie habe ich tolle Briefe bekommen. Dadurch habe ich erstmal gemerkt, wie vielen Menschen ich etwas bedeute. Das wusste ich nicht!
Jetzt kann ich nicht verstehen, warum ich all die schönen Dinge des Lebens aufgeben wollte. Es macht mir jetzt noch Angst, wie wild entschlossen ich war. Es gibt so viel Gutes im Leben und es lohnt sich durchzuhalten. Ich musste lernen, mir zu vergeben und zu akzeptieren, was passiert ist. Mir hat der Gedanke geholfen, das Akzeptieren nicht bedeutet, es gut zu finden, was passiert ist. Nach und nach durfte ich dann mal mit dem Rollstuhl zur Besuchszeit nach draußen. Wir haben uns auf eine Picknickdecke gesetzt und ich habe Kuchen gegessen. Ich habe es einfach getan und mich meiner Angst gestellt. UND es ist nichts passiert!!! Der Kuchen hat mich nicht 3 kg dicker gemacht. Der Kuchen hat mir einfach Kraft gegeben, den Tag zu meistern. Ich kämpfte mich aus der Opferrolle heraus und sagte mir immer wieder, „Ich bin stark.“, „Ich schaffe das.“, bis ich es selbst geglaubt habe. Ich musste lernen zu sagen, was ich brauche, damit es mir besser geht.

Bis hierhin geht meine Geschichte und sie ist noch nicht zu Ende. Alle Puzzleteile, die zu meiner Krankheit geführt haben, kann ich nicht zusammensetzen. Aber ich kann akzeptieren, dass ich nicht daran Schuld bin und mir dann vergeben kann. Ich denke, ich muss noch ein bisschen kämpfen. Es ist völlig okay, wenn man Hilfe braucht. Es bedeutet keine Schwäche, sondern Stärke, es sich einzugestehen.